Die zweite Strafkammer des Obersten Kassationsgerichtshofs befasst sich mit der Entscheidung Nr. 15724 vom 22. April 2025 erneut mit der heiklen Frage der revirement (Umkehrung der Rechtsprechung) in der Berufungsinstanz. Der Fall betrifft den Prozess gegen E. T., der in erster Instanz vom Tribunal Mailand freigesprochen und dann in der Berufung verurteilt wurde. Der Oberste Gerichtshof hebt die Entscheidung zwar teilweise auf, legt aber Grundsätze fest, die jede zukünftige Verteidigungsstrategie und das Vorgehen der Tatsacheninstanzen beeinflussen werden.
Die Entscheidung steht im Einklang mit Artikel 603 Absatz 3-bis der italienischen Strafprozessordnung (c.p.p.), der die erneute Durchführung der Beweisaufnahme vorschreibt, wenn die Berufung auf die Aufhebung eines Freispruchs abzielt. Ziel des Gesetzgebers – unter Berücksichtigung der Grundsätze der EMRK (siehe Dan gegen Moldawien, 2011) – ist es, den Widerspruch „auf derselben Ebene“ vor dem Richter zu gewährleisten, der über die strafrechtliche Verantwortung zu entscheiden hat.
Der Gerichtshof nimmt zu zwei Szenarien Stellung:
1. Wesentliche Übereinstimmung zwischen den im ersten Grad abgegebenen und den in der Berufung erneut durchgeführten Aussagen: Der Richter kann die Verurteilung auf die ersteren stützen, ohne sie ausdrücklich bevorzugen zu müssen.
2. Abweichung zwischen den Aussagen: Hier greift die Verpflichtung zur verstärkten Begründung, d.h. eine argumentative Anstrengung, die darlegt, warum einer Quelle mehr Glaubwürdigkeit beigemessen wurde als einer anderen.
Im Hinblick auf das Berufungsverfahren kann der Richter, der nach dem Freispruch des Angeklagten in erster Instanz die erneute Beweisaufnahme anordnet, die freisprechende Entscheidung durch ein Verurteilungsurteil aufheben, ohne verpflichtet zu sein, den im Rahmen der erneuten Beweisaufnahme erhobenen Zeugenaussagen Vorrang einzuräumen, da er sich bei wesentlicher Übereinstimmung ihres Inhalts auf die im vorherigen Rechtszug gewonnenen stützen kann. Im Falle einer Abweichung zwischen dem Inhalt der Aussagen muss er jedoch eine verstärkte Begründung für die Entscheidung liefern, die eine Aussage der anderen zugrunde legt.Kommentar: Die Leitsatz bestätigt, dass das Herzstück des Berufungsverfahrens nicht die bloße Wiederholung von Beweismitteln ist, sondern deren kritische und begründete Bewertung. Wenn die erneut erhobenen Zeugenaussagen nichts Wesentlich Neues hinzufügen, kann der Richter sich rechtmäßig auf die bereits erfassten stützen. Andernfalls schreibt der Gerichtshof eine „verstärkte“ Begründung vor: Formale Verweise reichen nicht aus, es muss detailliert erklärt werden, warum eine Version der Ereignisse bevorzugt wird. Dies schützt den Angeklagten vor willkürlichen Entscheidungen und gewährleistet Transparenz im Einklang mit Art. 111 der Verfassung und Art. 6 EMRK.
Für den Verteidiger legt die Entscheidung nahe:
Für die Staatsanwaltschaft stellt das Urteil ein Instrument dar, um die Stichhaltigkeit der Verurteilung zu untermauern, auch wenn sich der erneute Beweis nicht unterscheidet, und die Abwesenheit logischer Lücken in der Begründung erster Instanz hervorzuheben.
Das Urteil Nr. 15724/2025 klärt den Rahmen, innerhalb dessen der Berufungsrichter einen Freispruch aufheben kann: Die Beweismittel erster Instanz bleiben nutzbar, aber das Auswahlkriterium muss klar sein. Die verstärkte Begründung ist keine Formalität, sondern die Garantie, die die Achtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Verteidigung gewährleistet. Ein obligatorischer Schritt für jeden Strafrechtsexperten, der Kassationsbeschwerden vermeiden möchte.